Meine Eltern leben jetzt im Krieg

Seit August 2015 kenne ich diese junge kurdische Familie mit zwei Kindern aus Syrien. Die Mutter kann Englisch und sie half in der Flüchtlingsunterkunft durch ihre Übersetzungen. Sie kamen über die Balkanroute zu Fuß mit einem Rucksack als Gepäck und den Kindern (2 und 4 Jahre alt) auf den Schultern. Zunächst musste der kleine Junge wieder gesundwerden. Er hatte Infektionen bekommen auf dem Weg mit den Menschenmassen. „Zum Glück bekamen wir nach 3 Monaten eine kleine Wohnung!“ sagt die Mutter.


Inzwischen haben die Eltern Deutschkenntnisse auf dem Level A2 und B1, die Tochter ist in der ersten Klasse und spricht Deutsch wie eine Muttersprachlerin. Der kleine Bruder geht, wie zuvor seine Schwester, gern in den Kindergarten. Freunde sind gefunden, Fahrradfahren gelernt, der erste Minijob begonnen, die Führerscheinprüfung bestanden, der Platz in der Fußballmannschaft gefunden. Sie kommen zur Ruhe und schmieden Pläne. Die junge Mutter träumt davon, Erzieherin zu lernen. Der Vater hatte in Syrien 7 Jahre als Tischler und Zimmermann gearbeitet und möchte gern wieder in einem Beruf mit Holz tätig sein. Sie wissen, dass sie noch einen Weg vor sich haben, weil der Abschluss der Mutter nach zwölfjähriger Schulzeit hier nur als Hauptschulabschluss anerkannt wird und der Vater seine Fähigkeiten in der Praxis und ohne einen in Deutschland anerkannten Abschluss erworben hat.
Ich frage das Paar nach der Situation der Kurden in Syrien und ihrer Heimatstadt Afrin:


Kurden leben in der Region Kurdistan. Dieses Gebiet wurde nach Ende des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren und dem Ende des Osmanischen Reiches durch die kolonialen Grenzziehungen zwischen den neu gebildeten Staaten Türkei, Syrien, Iran und Irak zerteilt. Dies erklärt ihr andauerndes Streben nach Autonomie.
Syrische Kurden sind eine Minderheit, die im Norden des Landes lebt. Ihr Gebiet wurde bei der Gründung des Staates Syrien 1918 durch die Festlegung der Grenze zur Türkei entlang der (inzwischen stillgelegten) Bagdadbahn von den türkischen Kurden abgeschnitten. Kurden dürfen ihre (indogermanische) Sprache weder schriftlich noch mündlich nutzen. In der Schule und in der Öffentlichkeit ist nur arabisch , die syrische Sprache erlaubt. Namen werden ins arabische verändert, wenn ein Kind ins Krankenhaus muss und so öffentlich bekannt wird. Die meisten Kurden in Afrin sind Sunnitische Muslime, wie auch die Mehrheit der Syrer. In Afrin dürfen Mädchen zur Schule, Frauen dürfen berufstätig sein und Auto fahren, wie Männer. Das Thema Kopftuch ist nicht wichtig, manche Frauen tragen eins, die meisten nicht.


Afrin liegt 55 km nordöstlich von Aleppo und ist eine Großstadt mit 500.000 Einwohnern. Durch die Verdienstmöglichkeiten in Aleppo nach der Öffnung Syriens für die Moderne im Jahr 2000 konnten die Familien ihre Häuser renovieren und das Stadtbild veränderte sich. Die Landschaft um die Stadt wirkt mediterran mit ihren 45 Millionen Oliven- und Granatapfelbäumen. Inzwischen leben auch viele geflüchtete Syrer aus dem zerstörten Aleppo in dieser Region.
Seit die türkischen Truppen gegen die Kurden im Januar 2018 im Norden von Syrien einmarschiert sind, ist ihre Sorge um die Eltern, Bruder, Schwester und alle anderen Verwandten riesig. In ihrer Heimatstadt Afrin ist Krieg, fallen Bomben in Wohnviertel. Sie sitzen vor dem Fernseher, verfolgen die Kriegsbilder und versuchen über Handy Kontakt zur Familie zu bekommen. Nachts ist die Telefonleitung besser und sie telefonieren mit den Verwandten. In der Nacht vor unserem Gespräch erfuhren sie von dem Tod einer 7 köpfigen Familie, die in ihrem Haus getroffen wurde. Wenn eine Unterbrechung des Telefonats ist, wissen sie nicht, ob die Leitung tot ist, oder der Gesprächspartner am Telefon. Die Verzweiflung ist groß. Sie sind aber auch froh, mit ihren Kindern hier zu sein.
Die junge Familie dankt dem Freundeskreis für Flüchtlinge in Ammersbek und dem Ehepaar, das sie begleitet, für die Unterstützung in den vergangenen Jahren.

Karin Wisch

Anmerkung der Autorin:
Die Türkei hat 2005 von einer deutschen Firma mit Genehmigung der Bundesregierung 354 Leopard 2 Panzer gekauft. Mit diesen Panzern sind türkische Truppen in Afrin einmarschiert. 2016 wurden Panzerabwehrraketen, Sturmgewehre G-36 samt Munition sowie fünf gepanzerte Transportfahrzeuge vom Typ Dingo an die Kurden in den Nordirak geliefert. Die Kurden hätten sich als "erfolgreiche und effektive Bodentruppen gegen den barbarischen IS erwiesen", sagte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen der "Bild"- Zeitung. Ist es nicht wahnsinnig, wie Deutschland wieder an Kriegen beteiligt ist?!